Das Zahnmedizinistudium
The Making Of – die unveröffentlichten Kapitel
20 | 02 | 2014
TEXT Ingmar Dobberstein
Ich hab´s geschafft!
Fünf Jahre studiere ich schon. Wenn ich mir über eines sicher geworden bin, dann darüber, dass es immer anders kommt als man denkt.
Bis zum Physikum hatte man in der Vorklinik einiges durchgemacht. Man hatte gelernt, die meiste Zeit des Tages mit der Zahnmedizin zu verbringen und Kommilitonen und Ausbilder als temporäre Familie zu betrachten. Außerdem hatte man akzeptiert, sich den subjektiven Bewertungskriterien zu beugen, engste Freunde durchfallen zu sehen, sowie persönliche Niederlagen einzustecken. Aber es ging weiter.
Der erste Patientenkontakt kam und endlich war es soweit, wie lange hatten wir darauf gewartet?! Die zahnMEDIZINISCHE Ausbildung begann.
Nach einem erfolgreich bestandenen vierten Studienjahr und ausgiebigen Semesterferien mit Gremienarbeit und Promotion sagte man sich: Was soll da denn schon noch groß passieren? Immerhin hat man ja die Steigerung in der Qualität der Ausbildung von Vorklinik zur Klinik deutlich wahrgenommen und außerdem schon das vergangene Jahr am Patienten behandelt.
Kapitel 1
Der Stundenplan, oder:
Studenten arbeiten nicht
Durch all die Ups and Downs geläutert, war man trotz der Losverfahren, des Zeitaufwandes und aller persönlichen Entbehrungen zu Beginn des fünften Studienjahres hoch motiviert gewesen und bereit für neue Herausforderungen.
Zu Beginn des Studiums sagte mal ein Examensstudent zu mir: „Am Anfang wirst Du vom Zahnmedizinstudium aufgesaugt, damit es Dich nach sechs Jahren wieder ausspuckt.“ Und genau dieser Zustand sollte sich in seinem schlimmsten Ausmaße im nun folgenden Jahr zeigen.
Der Pflichtstundenplan von 52 Stunden pro Woche stellt dabei nur eine Anforderung an den modernen Zahnmedizinstudenten dar; das Patientenmanagement der durchschnittlich 25 Patienten oder die Finanzierung des Lebensunterhaltes und Studiums sind da beiläufig noch andere.
Die Folgen dieser Umstände zogen weit größere Kreise mit sich: Hauptwohnsitzwechsel in die Zahnklinik, soziale Desintegration, Selbstzweifel und Beziehungscrashs.
Doch dabei sollte es nicht bleiben. Synopsennachmittage und Referate forderten weit mehr persönliche Freizeit als einem lieb war. Dass dann noch Seminare in der Mittagspause, der einzigen freien Stunde des Tages, abgehalten wurden, verwunderte kaum. Aber wie konnte es dazu kommen, dass dieser Studiengang so überladen und verschult ist, dass einem nicht nur wenig Spielraum in der Gestaltung des Studiums sondern, gleichzeitig sehr wenig persönlicher Freiraum bleibt?
In den letzten 50 Jahren gab es in der Zahnmedizin einen enormen Wissenszuwachs, der uns, gerade an einer modernen Universität wie der Charité, auch stetig aktualisiert vermittelt wird.
Wir studieren allerdings auch nach einer Approbationsordnung, die 2003 ihren fünfzigsten Jahrestag feierte. In dieser Ordnung sind zum Beispiel keine Seminare vorgesehen, vielleicht, weil das Wissen vor fünfzig Jahren noch etwas überschaubarer war und ausreichend in Vorlesungen vermittelt werden konnte. Auch lernpsychologische Erkenntnisse wie POL (problemorientiertes Lernen) oder einsichtiges Lernen fanden damals noch keine Berücksichtigung.
Besonders in der Parodontologie wurden neue Erkenntnisse gewonnen, so dass die Studenten vor Jahren den Wunsch äußerten, in diesem Fach Seminare zu erhalten. Da der Stundenplan ohnehin so überfüllt war und niemand nach Kursschluss um 19.00 Uhr ein Seminar abhalten wollte, entschloss man sich, es in die Mittagspause zu legen. Doch wie viele Stunden kann man eigentlich konzentriert lernen und wie viele muss man sich erholen?
Natürlich ist uns bewusst, dass dies ausschließlich im Interesse der Studenten liegt, doch wundert es uns, dass bei all den Neuerungen nie etwas veraltet. Es ist toll, in CEREC und Implantologie geschult zu werden, mit dem Mikroskop auf Wurzelkanalsuche zu gehen und kleine Kinder zu behandeln, aber sollten dafür nicht auch andere Inhalte wegfallen oder anders verteilt werden?
Nach der ein oder anderen Stundenplanänderung führte dies im Verlauf der Jahre dazu, dass im fünften Studienjahr einige Studenten dienstags von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends in der Zahnklinik waren, ohne dabei eine Mittagspause gehabt zu haben.
Die Arbeitsschutzbestimmungen der Charité besagen, dass ein Mitarbeiter nach vier Stunden Arbeit verpflichtet ist, für eine halbe Stunde Pause zu machen. Mit diesem Argument gewappnet, baten wir die Kurs- und Seminarleiter um eine Änderung dieses Zustandes, da die Betroffenen Studenten dies als unnötige Belastung empfanden.
Unser Vorschlag, die Zeit einer Doppelvorlesung des selben Faches am Donnerstag zu nutzen, um das Seminar und eine kürzere Vorlesung zu kombinieren, wurde unter anderem mit dem Argument abgelehnt, dass „Studenten in der Zahnklinik ja wohl nicht arbeiten würden.“
Kapitel 2
Der Zentrumsrat, oder:
Wie man Studenten an der Nase herumführt
Die Krisensituation wurde natürlich im Zentrumsrat vorgetragen, dem Rat der Ältesten und Weisen unserer Zahnklinik. Nach mehreren Sitzungen und einigen Diskussionen fand unser Anliegen Gehör, so dass der Rat den Beschluss fasste, dass keine Lehrveranstaltungen in einer Mittagspause stattfinden dürfen.
Irgendetwas schien jedoch die interne Kommunikation in den Abteilungen gestört zu haben, da die Seminare, trotz des vorliegenden Zentrumsratsbeschluss, weiterhin in der Pause abgehalten wurden. Wir mussten uns allerdings fragen, was für eine Art von Seminar hier überhaupt vorlag, ging es von Anfang an nur um die Überarbeitung des Parodontologieskriptes, also eigentlich um eine Aufgabe des Lehrpersonals.
Außerdem verfolgten die Seminarleiter die Veranstaltung mit sehr unterschiedlichem Ehrgeiz, einige forderten unter Androhung des Kursscheinverlustes die Seminarzeit ein, während andere im ganzen Semester nur ein oder zwei Seminare durchführten. Aber hatte sich nun etwas geändert und wo war hier der Einfluss des Zentrumsrates?
Was nun passierte, sollte sogar eingefleischte Fachschaftler überraschen. In einer bisher einzigartigen Semester-Vollversammlung sprachen sich nach sehr reger Diskussion alle Studenten für den Boykott des Paroseminars aus und führten ihn konsequent durch.
Man sollte sich das nicht so einfach vorstellen, denn auch Studenten vertreten ihre persönlichen Interessen sehr deutlich, und selten war man sich so einig. Ein boykottiertes Seminar bedeutet immer einen Schnitt in´s eigene Fleisch, doch offenbar war die zeitliche Belastung bei den Studenten stärker als der Wunsch nach einem Kleingruppenseminar in der Mittagspause. „Guten Appetit“.
Was waren die Konsequenzen? Einige Seminarleiter beschlossen, der Lernstoff müsse später, an Abenden oder Wochenenden, nachgeholt werden. Andere schauten etwas pikiert und fragten uns, „was wir überhaupt erreichen wollten. Früher sei das Studium sowieso härter gewesen und wir würden es jetzt nur noch einfacher machen wollen“.
Aber warum boykottierten wir dann, wenn sowieso alles in der Freizeit nachgeholt wird und keiner daran dachte, diese Lehrveranstaltung auf einen besseren Termin zu legen? Und was konnten wir noch tun, um verstanden zu werden?
Kapitel 3
Die Synopse, oder:
Wie lerne ich lernen? oder:
Stell dir vor es ist Klausur und keiner geht hin?
Es gab noch eine andere Veranstaltung, die sich durch besonders hohen Zeitaufwand hervortat: das Synopse Seminar, eine der Errungenschaften unserer Klinik, die sich dadurch hervorhebt, dass man hier lernt, Problemfälle wissenschaftlich zu bearbeiten.
Erstmals in fünf Jahren Studium waren wir vor das Problem gestellt uns kritisch mit wissenschaftlichen Artikeln auseinander zu setzen, um diese zusammenzufassen.
Nach Fertigstellung der Arbeiten sollten die Ergebnisse als Powerpointpräsentation vorgestellt werden, auch multimediale Kenntnisse waren von uns gefordert. Aufgrund der hohen Motivation unter den Studenten wurde eifrig herumgeforscht, Experten wurden befragt und es entbrannte sogar ein kleiner Wettstreit um die beste Präsentation.
Zwar wurde mehrfach die Frage gestellt, warum man erst im letzten Studienjahr lernt zu lernen, doch die Veranstaltung machte Spaß und war zumindest für die Studenten sehr lehrreich.
Den Seminarleitern war dies jedoch noch nicht genug. Wir sollten noch eine Klausur schreiben, aber worüber denn? Vielleicht darüber, wie man Textelemente im Powerpoint setzt oder einen Fachartikel aus dem Englischen übersetzt? Oder vielleicht über das Detailwissen, das uns jede Woche in einer Stunde präsentiert wurde? Wozu gab es denn in jedem einzelnen Fachgebiet Klausuren? Das eigentliche Ziel, das Lernen zu lernen, hatten wir doch erfüllt.
Nach langwierigen Gesprächen im Zentrumsrat beschloss eine zweite Vollversammlung der Studenten ein noch eindeutigeres Zeichen gegen die zeitliche Organisation des Studiums zu setzen.
Es war Montagmorgen, 8:00 Uhr, der Tag der Klausur, und keiner ging hin. Es dauerte geschlagene eineinhalb Stunden, bevor einer unserer Lehrer zu uns ins Foyer kam, um mit uns über unsere Gründe zu sprechen. Das Ergebnis der Aktion war ein Gespräch mit dem versammelten Lehrkörper und dem Semester. Und eine Pause.
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