Raum
20 | 02 | 2014   

Ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt,
ein Bettler, wenn er nachdenkt. Friedrich Hölderlin

TEXT  Ingmar Dobberstein

„5. Sondern Gott weiß, dass, welches Tages ihr davon esset, so werden eure Augen aufgetan und werdet sein wie Gott, und wissen was gut und böse ist. 6. Und das Weib schaute an, dass von dem Baum gut zu essen wäre, und lieblich anzusehen, dass es ein lustiger Baum wäre, weil er klug machte; und nahm von der Frucht, und aß, und gab ihrem Manne auch davon, und er aß. 7. Da wurden ihrer beider Augen aufgetan, und wurden gewahr, dass sie nackt waren […].[Bibel; 1. Buch Mose, 3. Kap.]

Seit Anbeginn der menschlichen Geschichte, sei sie so beschrieben, oder auch nach rein wissenschaftlichen, erkenntnisbasierten Entstehungstheorien abgelaufen, funkt uns unsere kognitive Fähigkeit ständig dazwischen. Von wegen, „wissen, was gut und böse ist“, wer von uns kann dies schon von sich behaupten? Vielmehr ist es die ständige Suche nach diesem Wissen, die uns mit einer Art von Versuch und Irrtum um jedes Fünkchen `Wahrheit´ kämpfen lässt.

Immerhin hieß diese Versuchung nicht Baum der Wertung, sondern einfach nur Baum der Erkenntnis und erkennen können wir moderne Menschen heutzutage viel. Aber können wir auch verstehen oder vielleicht sogar bewerten?

Der Weg zur Erkenntnis

In der christlich abendländischen Welt ist die Erkenntnis weiterhin oberstes Motto und angesehenes Ziel. Ob das im Rahmen der neuesten High-Tech Entwicklungen oder im Sinne der modernen medizinischen Forschung geschieht, ist dabei unwichtig.

Wer viel arbeitet und lernt, wer viel Geld verdient und im Interesse der Medien steht, ist angesehen.

Bei vielen Zielen handelt es sich um „bedeutende Entwicklungen“, die unbedingt WAHR genommen werden sollen und wie die schönen, lieblich anzusehenden Äpfel des Baumes konsumiert werden. Auch wenn dies für mein Verständnis die permanente Wiederholung des Sündenfalls ist, hatte diese Neugierde nach den Hintergründen der Welt in der Vergangenheit ihr Gutes.

Vom ersten Moment unseres Lebens erkunden wir unsere Welt, versuchen zu verstehen und sie vorhersagbar zu machen. Dies verhalf dem Menschen zum bisherigen evolutionären Erfolg. Doch was können wir eigentlich vorhersagen?

Die Wettervorhersage ist genauso treffsicher wie vor hundert Jahren, vielleicht sogar etwas weniger, weil man sich heutzutage mehr auf Computer verlässt als auf die Zeichen der Natur und des Wetters selbst.

Können wir vielleicht vorhersagen, wann eine Füllung bricht oder wann sie viele Jahre hält? Und können wir wirklich vorhersagen wann eine Krankheit ausbricht und welche Symptome sie zeigen wird? Warum nicht?

Was wissen wir denn eigentlich? – Das wir Menschen sind und vom Affen abstammen? Oder das Körper mit einer Masse andere anziehen? Vielleicht auch dass wir uns jetzt gerade an einem Ort, wo auch immer, auf dem Planeten Erde befinden und sich solche und jene Gegenstände und Lebewesen in unserer Umgebung befinden?

Würde man eine Mücke fragen, was sie, sich im gleichen Raum befindend durch ihre Facettenaugen sieht, würde wahrscheinlich eine andere Vorstellung derselben Umgebung entstehen.

Würde man einen Hund fragen, welche Geräusche und Gerüche er wahrnimmt, während man mit ihm Gassi geht, würden wir einen anderen Eindruck von unserer Alltagswelt haben.

Und selbst, wenn wir Menschen dem gleichen Vortrag zu hören oder die gleichen Nachrichten schauen, werden verschiedene Gedanken und Gefühle in uns geweckt, je nachdem, welche Schlüsselreize unsere Aufmerksamkeit erregen. Und können unsere Messapparaturen und Geräte, die uns das Gefühl der Objektivierung unserer Umwelt geben, komplexe Situationen so erfassen, dass ein Wahrheitsanspruch daraus resultieren kann?

Eine Studie wird in dem Moment das erste Mal beeinflusst, in dem der Untersucher entscheidet, welche Parameter das Interesse verdienen und welche nicht. Und auch auf anderer Ebene finden sich Phänomene, wo gleiche Reize (Transmitter) unterschiedliche Folgen haben. In der Physiologie versucht man dies zu umschreiben, in dem man postuliert: Der Rezeptor und nicht der Transmitter bestimme die Wirkung!

Die heutige Informationsflut ist für einen Menschen allein nicht mehr erfassbar. Eine Konsequenz dessen ist die hohe Spezialisierung moderner Berufe und Arbeitsbereiche, eine andere, die fehlende Verknüpfung der verschiedenen Fach- und Wissensgebiete. Sind es vielleicht zu viele Informationen für uns alle?

Wir lernen Ausschnittsdenken und begrenzen unser Gedankenpotential auf einzelne kleine Bereiche, die ihrerseits wiederum Mikrowelten eröffnen können. Jeder kann aus seinem Betätigungsfeld ganze Philosophien über das menschliche Verhalten ableiten.

So werden dem einen beim Zusammenwirken von Bakterien die gleichen Grundsätze offenbar, die unserer Gesellschaft zugrunde liegen, einem anderen die persönlichen Bedürfnisse bewusst, wenn er Vögeln beim Zug in wärmere Gebiete zuschaut.

Wenn man schon der Erkenntnis hinterher jagt und der Wahrheit nahe kommen möchte, warum verweilt man nicht einen Moment und wertet erstmal aus, was man schon hat? Und da der Mikrokosmos ähnlich dem Makrokosmos funktioniert, sollte man in dieser Hinsicht nicht nur im eigenen Fachgebiet forschen, sondern versuchen, die Grenzen des persönlichen Blickfeldes zu erweitern.

Wenn wir jedoch als Menschheit nur einen Ausschnitt der Wahrheit kennen, wir obendrein als Einzelner nur einen Bruchteil davon erfassen können, wie können wir denken, dass unsere Vorstellung von der Wirklichkeit eine gültigere ist, als die anders denkender Menschen oder fremder Kulturen?

Ich verstehe bis heute nicht, wie eine Schulmedizin einen derartigen Gültigkeitsanspruch vertreten kann ohne dabei zum Beispiel (Natur)Heilkunde Verfahren zu berücksichtigen, zu unterrichten oder zu erforschen, die sich seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden bewährt haben. Vielleicht, weil sie nicht alles heilen können? Vielleicht aber auch weil noch keine Geräte erfunden wurden, um auf dieser Ebene Untersuchungen anstellen zu können? Was wir nicht sehen, existiert nicht! Und die Erde ist doch eine Scheibe!

Wir begrenzen unseren Gedankenraum selbst, weil es angenehmer ist, an scheinbar bewiesene Wahrheiten zu glauben, als zu akzeptieren, dass vielleicht doch alles anders ist als man es sich bisher vorstellte.

Doch wo ist da unser Erkenntnistrieb, unsere Neugierde nach der Wahrheit? Reicht doch irgendeine Wahrheit, – Hauptsache man kann ruhig schlafen? Wenn dann doch Menschen quer denken und das „Normale“ hinterfragen, wurden sie früher und werden noch heute eher ausgeschlossen als ernst genommen: sie könnten die mühsam erarbeitete, schöne heile Welt erschüttern.

Der Weg zum Ich

Täglich durchlaufen wir verschiedenste Lebensbereiche und Räume. Von Berufsalltag über Familienleben bis zum Raum für die persönliche Entfaltung gibt es viele Bedürfnisse, die in ein Leben gepackt werden müssen. Welches hat mehr Priorität? Wie viel davon ist überhaupt selbst bestimmbar und wie viel tun wir, weil andere es von uns erwarten?

Nicht selten fühlen wir uns überfordert, in einer Welt, die uns so viel Luxus und Bequemlichkeit bietet. Besonders in Städten fühlen sich viele einsam und ziellos, obwohl eine so große Ansammlung von Menschen und Betätigungsfeldern vorhanden sind. Wie geht das?

Was geschieht, wenn wir uns zu viel mit einem dieser Bereiche beschäftigen? Wir fühlen uns beengt und fordern Raum für andere Bedürfnisse und Leidenschaften. Wir wünschen uns in den Urlaub, auf einen Berg oder an das Ufer eines Meeres, um dieses Gefühl der Weite und Freiheit zu spüren und uns damit das Gefühl von Freiraum zu verschaffen.

Wie gehen wir damit um, wenn einer dieser dominanten Bereiche zum Beispiel die Arbeit ist, deren Existenz überhaupt erst ein Familienleben und Hobbys ermöglicht und ihnen gleichzeitig keine Zeit dafür lässt?

Warum ist Freiheit nicht das Wesentliche, das Arbeit in unserer Gesellschaft heutzutage darstellt? Warum ist die persönliche Selbstfindung nicht das propagierte Ziel der Erkenntnis? Und warum müssen wir so viel arbeiten, dass uns am Ende des Tages die Kraft fehlt, noch etwas für die anderen Lebensräume zu tun?

Vielleicht sind wir durch die vielen Informationen und Wahrheiten, Möglichkeiten und Verlockungen ein wenig durcheinander gekommen und haben das eigentliche Ziel unseres Gott-Werdens aus den Augen verloren?

Die Erkenntnis bleibt eine Widerspiegelung der scheinbar objektiven Realität – je nach dem wie weit unser gedanklicher Horizont und seine Realität reichen. Da der Erkenntnis eine Zielsetzung oder ein Handlungswunsch vorausgeht, wird es unser Umgang mit diesen Erkenntnissen sein, der entscheidet, ob wir unsere Umwelt beherrschen oder mit ihr leben.

Vom ersten Moment unseres Lebens erkunden wir unsere Welt, versuchen zu verstehen … – und dann hören wir auf damit, und lernen lieber alte Erkenntnisse und Wahrheiten. Neue Gedanken brauchen Raum!
Seit mittlerweile zwei Jahren bitten wir um die Gründung eines Ausbildungsgremiums im Zentrum für Zahnmedizin, das, paritätisch mit Studenten und Lehrkörper besetzt, die speziellen Bedürfnisse der Organisation der zahnmedizinischen Lehre diskutiert und bestimmt.

Wir denken, dass die angesprochene Problematik besser in der Zielgruppe, also mit den Kursleitern, Oberärzten und Studenten beschlossen werden sollten,  als auf Abteilungsleiterebene ohne die eigentlich Betroffenen geregelt zu werden.

Systeme wie diese haben sich, wie in der letzten Ausgabe berichtet,  zum Beispiel in Kopenhagen sehr gut bewährt. Die Fusion der Berliner Hochschulmedizin bietet allen Beteiligten die Möglichkeit, solche und andere Erneuerungen und Verbesserungen in der Ausbildung umzusetzen. In diesem Sinne: „Studere“!

 

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