Wenn ich mal groß bin, möchte ich Tourist werden
06 | 03 | 2014   

TEXT  Anne Vocke

Als Kind hat man die wildesten Träume, welchen Beruf man später ausüben möchte. Mein Berufswunsch war der einer Reisenden – ferne Länder, fremde Kulturen und Sprachen haben mich schon immer fasziniert und interessiert. Heute, fast 15 Jahre später bin ich frisch examinierte Zahnärztin und habe den Wunsch, ferne Länder und Kulturen zu entdecken über die Zeit nicht vergessen.


In allen klinischen Semesterferien bin ich um die halbe Welt gereist und habe viele fremde Sitten und Bräuche kennengelernt. Ursprünglich wurde ich auf einem der unzähligen ZAD-Abende an meiner Universität auf die Möglichkeit einer Auslandsfamulatur aufmerksam. Von der Idee, Reisen und Zahnmedizin zu verbinden, die zwei Dinge, die mir am meisten Spaß machten, war ich sofort hellauf begeistert.

Ist man einmal entschlossen, muss man jedes Mal aufs Neue einige wichtige Fragen klären: Wohin, mit wem, welcher Zeitpunkt ist der Beste, welche Besonderheiten herrschen in diesem Land, welche Zahnmedizin wird dort praktiziert?

Für meine letzte Auslandsfamulatur konnte ich Ellen als Reisepartnerin gewinnen. Doch wohin sollte unsere Reise gehen? Einerseits wollten wir viele zahnmedizinische Erfahrungen sammeln, selbstständig arbeiten und bedürftigen Menschen helfen, andererseits wollten wir weit weg, ein fremdes Land bereisen und neue kulturelle Erfahrungen machen. Von Anfang an war uns klar, dass unser Reiseziel englischsprachig sein sollte, so dass Lateinamerika nicht in Frage kam. Nicht zuletzt würde so die Kommunikation mit den künftigen Patienten so deutlich leichter fallen.

Nach kurzer Recherche fiel unsere Wahl auf das Königreich Tonga. Jenes Land im Südpazifik, welches aus 169 Atollen besteht und von denen nur 39 bewohnt sind. Ein ideales Reiseziel für all diejenigen, die dem westlichen Konsumüberfluss entfliehen wollen und ursprüngliche Natur und einsame weiße Strände entdecken wollen.

Das Königreich besteht aus vier Hauptinseln: die bevölkerungsreichste Hauptinsel Tongatapu, die Insel Ha’apai, welche für ihre langen einsamen weißen Sandstrände berühmt ist, Vava’u, die Seglerherzen höher schlagen lässt und die noch weitestgehend unerschlossene Niuas. Jede dieser Inseln ist auf ihre Weise einzigartig.

Bevor wir unser Abenteuer antreten konnten, hatten wir alle Hände voll zu tun: Kontaktaufnahme mit Dr. Amanaki, Flugsuche, Reisekrankenversicherung abschließen, Impfungen, Reisekostenzuschuss beim DAAD beantragen und die so dringend benötigten Spenden zu organisieren. Nach neunmonatiger Vorbereitungszeit war es dann soweit. Wir standen schwer bepackt am Frankfurter Flughafen mit jeweils 20 kg Spendenmaterial. Für uns konnten wir nur das Nötigste einpacken, da Air New Zealand leider keinen kostenlosen Transport der Spendenmaterialen übernommen hat.

Einen anstrengenden 32 Stunden Flug über Dubai, Sydney, Auckland nach Tongatapu später landeten wir völlig übernächtigt um 22.30 Uhr Ortszeit auf einem platten Sandpfannkuchen am anderen Ende der Welt.

Voller Tatendrang stellten wir uns am kommenden Tag im Voila Hospital bei Dr. Amanaki und Dr. Sihilou vor und wurden sehr herzlich in Empfang genommen. Nachdem Dr. Amanaki uns die 10 „Behandlungseinheiten“, von denen nur 5 mit Bohrer und Sauger ausgestattet waren, das kleine Dentallabor (für die Prothesenherstellung) und die zwei von Japan gesponserten neuen OP-Säle für umfangreiche Zahnsanierungen, und Weisheitszahnextraktionen gezeigt hatte, nahmen wir direkt unsere Arbeit auf.

Anfänglich gab es dann doch Verständigungsprobleme, da weder Ellen noch ich der tongaischen Sprache mächtig sind. Besonders bei den älteren Patienten und Kleinkindern waren wir so auf das dortige Klinikpersonal angewiesen, um die Sprachbarrieren zu überwinden. Die Standardfloskeln „Wo tut’s weh?“, „Wir müssen den Zahn ziehen!“, „Wir müssen anästhesieren“, „Auf“ und „Zu“, „Schmerzen“ etc. hatten wir uns schnell angeeignet.

Das zweite, weitaus größere Problem bestand darin, dass wir während unseres Studiums jeweils nur zwei Zähne gezogen haben und die hatten Lockerungsgrad II. Der Umgang mit Hebel und Zange war für uns anfänglich absolutes Neuland und bedurfte einer gewissen Eingewöhnungszeit. Trotz aller Zweifel wurden wir mit jedem weiteren erfolgreich extrahierten Zahn selbstsicherer und brauchten immer weniger Zeit zum Ex’n.

Überrascht hat uns das fortschrittliche Arbeiten der tongaischen Ärzte in der konservierenden Behandlung mit Kofferdam und Schmelz-Ätz-Technik. Die hygienischen Verhältnisse waren dagegen weit unter dem Standard in Deutschland, so dass zum Beispiel Handschuhe mehrmals verwendet werden mussten und Bohrer ohne Zwischensterilisation für verschiedene Patienten benutzt wurden.

Den größten Spaß hatten wir bei der Arbeit an den Schulen. Seit zwei Jahren fahren die Zahnärzte im Rahmen des „Mali-Mali“-Programms (Lachen-Lachen) zu den Schulen und  üben gemeinsam mit den Schulkindern das Zähneputzen. Die 1000 Zahnbürsten aus unseren mitgebrachten Spenden wurden dafür dankend entgegengenommen, reichten jedoch bei weiten nicht aus, den Bedarf zu decken. Nicht selten teilen sich ganze Familien eine Zahnbürste.

Trotz intensiver Bemühungen der Ärzte und der Regierung (Zahnbehandlung ist kostenfrei!), der Bevölkerung und den Kindern eine adäquate Mundhygiene beizubringen, sahen wir häufig Kleinkinder mit einer ausgeprägten ECC (Early Childhood Caries). Vielen Jugendlichen fehlten mindestens 3 bleibende Zähne, während bei der älteren Bevölkerung häufig nur noch verfaulte Wurzelreste vorzufinden waren. So verging kein Tag, an dem wir nicht Wurzelreste entfernten, Fisteln und Abszesse behandelten oder tief zerstörte schwarze Ruinen zu Gesicht bekamen.

Von älteren Reiseberichten wussten wir, dass es auch die Möglichkeit gibt, auf anderen Inseln im Königreich Tonga zu arbeiten, so dass wir uns entschlossen, weiter zu ziehen.

Anfänglich wollten wir die kostengünstigere Variante nehmen und mit einer alten, verrosteten Fähre die nördlich von Tongatapu befindliche Inselgruppe Vava’u besuchen. Nachdem uns selbst hartgesottene Urtonganer von der 16-20 stündigen, eingepferchten, holprigen Fährüberfahrt gewarnt haben, entschlossen wir uns für die weitaus komfortablere Variante Fliegen. Nach einem circa zweistündigen atemberaubenden Flug über unzählige unbewohnte Südseeinseln erreichten wir unser Ziel – Vava’u.

Ab jetzt wohnten wir wohl behütet in einer kleinen Jugendherberge direkt am Hafen. Von unserem Balkon hatten wir eine wunderschöne Sicht auf den Hafen, grüne Hügel und Berge und das tägliche Markttreiben. Hatten wir uns auf Tongatapu noch von Instant-Nudeln ernährt, entdeckten wir die vielen kleinen lokalen Köstlichkeiten in Vava’u.

Nachdem wir eine Woche lang jeden erdenklichen Strand erkundeten, Berge bestiegen haben, mit Walen geschwommen sind und Bootstouren zu Unterwasserhöhlen gemacht hatten, stellten wir uns in der Zahnklinik „Prince Ngu Hospital“ vor. Dr. Sitani und sein Team, bestehend aus zwei Helferinnen, begrüßten uns herzlich und freuten sich über unsere Hilfe. In Vava’u wurde die noch dringender benötigt, da Dr. Sitani der einzige Zahnarzt der Insel ist und über 10.000 Patienten betreuen muss.

Im Prince Ngu Hospital hatten wir unser eigenes Behandlungszimmer, auch wenn die Absauganlage regelmäßig kaputt war und weder Speibecken noch Röntgengerät existierten. Wurzelkanalbehandlungen wurden zu einer großen Herausforderung. und forderten wie vielen anderen Behandlungssituationen unser Improvisationstalent.

Täglich kamen mehr Patienten in die Klinik, da sich per Inselbuschfunk herum gesprochen hatte, dass zwei deutsche Zahnmedizinstudenten in Vava’u arbeiten und neue Verbrauchsmaterialen mitgebracht haben. Nicht selten kam es vor, dass wir ganze Familien von der Großmutter bis zum Urenkel versorgten. Leider war unser Alltag auch hier von Wurzelresten, Fisteln, Abszessen und stark kariösen Gebissen geprägt. Dr. Sitani half uns wohlwollend, stand mit Rat und Tat zur Seite und lehrte uns, Wurzelreste minimal invasiv zu entfernen.

Oft wunderten wir uns, wieso viele Patienten erst bei nicht mehr auszuhaltenden Schmerzen ärztliche Hilfe aufsuchten. Zum einen liegt die Schmerzgrenze der Tonganer offensichtlich erstaunlich hoch und zum anderen erfuhren wir, dass viele Patienten auf oftmals mehrere Bootsstunden abgelegenen Inseln wohnten.

Die meisten dieser Patienten gehen Zeit ihres Lebens nicht zum Zahnarzt, weshalb Dr. Sitani und sein Team alle zwei bis drei Wochen, je nach Wetterlage, mit einem kleinen Holzkutter zu den verschiedenen Inseln fahren. Einmal sind wir natürlich auch mitgefahren und zugegebenermaßen war uns doch etwas mulmig, mit dieser kleinen „Nussschale“ über die Korallenriffe und den tiefen stürmischen Südpazifik zu rauschen. Entlohnt wurden wir mit wunderschönen einsamen Inseln, frischem Fisch und frisch geernteten Kokosnüssen.

Eigentlich wollten wir nur drei Wochen auf Vava’u bleiben und auch noch andere Inseln besuchen, jedoch gab es in der Klinik so viel zu lernen und zu tun, dass aus geplanten drei Wochen Aufenthalt schnell sieben Wochen wurden. Wir haben in dieser Zeit viele neue Freunde kennengelernt, die uns mit ihren Segelbooten am Wochenende die Umgebung zeigten. Nach zweimonatigem Abenteuer, geprägt durch viele spannende Arbeitsstunden, viele persönliche Einblicke in die Sitten und Bräuche tongaischer Familien, unzähligen Strandaufenthalten und vielen Stunden auf dem Ozean war es Zeit, nach Hause zu fahren und Abschied zu nehmen.

Neben den neu gewonnen Freunden haben wir ein sehr freundliches, hilfsbereites, fürsorgliches und stolzes Volk kennengelernt. Wir sind uns einig, dass dies eines der aufregendsten, prägendsten und schönsten Abenteuer unseres Lebens war.

 

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