Ich bin die Wahrheit
13 | 02 | 2014   

TEXT  Ingmar Dobberstein

Die Suche nach der Wahrheit ist Grundprinzip allen forscherischen Seins, jeder Natur- und Geisteswissenschaften. Psychologen und Kommunikationsforschern zufolge lügt der Mensch jedoch durchschnittlich 200 Mal am Tag. Die Wahrheitssuchenden sind edle Menschen – aber offensichtlich auch nur Menschen und damit fehlbar und manipulierend.
Wie ist das mit der Wahrheit? Was kann man auf dieser Suche finden? Die großen Antworten, wie alles funktioniert und miteinander zusammenhängt? Was ist mit der Wahrheit, wenn es zum Beispiel heißt, dass es zu jedem Argument auch ein logisches Gegenargument gäbe? Wie ist das mit der Wahrheit, wenn man ein Geheimnis hat oder im Zweifelsfall einfach nicht alles erzählt?

Die Wahrheit war immer nur eine Tochter der Zeit. Leonardo da Vinci

Ich kannte einen, der hatte die Wahrheit erkannt … und dann ist er gestorben. Man sagt, am Ende des Lebens wüsste man, was wirklich wichtig ist und was nicht. Warum erst dann? Weil man nichts mehr ändern kann, weil das gelebte Leben dann die Wahrheit dieser Person ist?

Echte Wahrheiten und Realitäten, die gleichermaßen auf eine Spezies oder Gruppe angewendet werden könnten, gibt es wenige. Der Gang zur Toilette, Steuern und der Tod.

Schon bei einer Selbstverständlichkeit wie der Nahrungsaufnahme gibt es Indizien, dass einige wenige Menschen ohne Nahrung auskommen. Nur Wasser und Meditation?

Die Nahrungsaufnahme ist als Wahrheit und Notwendigkeit für den Körper wissenschaftlich gesichert, denn selbst wenn 0,1 % der Menschheit ohne auskommen könnten, würden die Gesetze noch für die anderen 99,9% gelten.

Interessanterweise scheint die Nahrungsaufnahme einer näheren Wahrheitsbetrachtung aber kaum stand zu halten. Hinter der bloßen Bezeichnung des Vorganges gibt es hunderte verschiedene Formen der Nahrungsaufnahme und deren Notwendigkeiten. “Normalesser”, Fleischesser, Vegetarier, Veganer, Bulimiker, Lactoseintolerante, Allergiker aller Art aber auch Menschen, die aufgrund von Krankheiten auf vielerlei Nahrungsformen verzichten müssen. Nahrungsaufnahme ist also bei weitem kein einheitlicher Prozess, der einen Wahrheitsanspruch als Ganzes haben könnte.

Nahrungsaufnahme und alles was an Verdauung und Energiegewinnung damit verbunden ist, ist stattdessen ein dynamischer Prozess, eine Balance zwischen Angebot und Nachfrage, zwischen Energiebedarf und Stoffwechsel, zwischen Aktivität und Ruhe und vielen weiteren Dualismen. Die Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme ist eine Grauzone, die von Mensch zu Mensch verschieden ist und höchstens individuelle Wahrheiten bereit hält. Leider sind auch diese Erkenntnisse kaum verlässlich, da sich die Nahrungsaufnahme und -gewohnheiten eines Menschen im Laufe des Lebens regelmäßig verändern.

Was sind dann Wahrheiten? Was ist mit der Realität, dem täglichen Gang zur Arbeit, den Aufträgen, den Patienten – was ist mit dem Ganzen, das einen umgibt? Das ist Wahrheit und Realität!

Oder auch nicht, denn es könnte alles anders sein. Man könnte woanders wohnen, etwas anderes arbeiten, jemand anderen lieben – alles was uns umgibt sind temporäre “Wahrheiten”, die wir uns so erschaffen haben. Unser Leben ist das Resultat aus dem Glückumstand, auf welchem Kontinent man geboren wurde und allem danach.

Dieses danach ist spätestens ab den ersten bewussten Gedanken auch eine Konsequenz unserer Entscheidungen. Wie in der Vergangenheit, wird man in der Gegenwart und Zukunft Entscheidungen treffen können – und sein Leben in Art und Weise verändern oder nicht, wie es eben am besten passt. Folglich entwickeln sich so die Wahrheiten, Prinzipien und das Denken.

Aus dieser Perspektive betrachtet, gelten Wahrheiten gerade einmal für Vergangenes und vielleicht noch die unmittelbare Gegenwart. Das wäre dann nicht die Wahrheit, nach der man sucht, sondern die, die man erkennt.

Wenn es nur eine einzige Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen. Pablo Picasso

Die Alltagsrealitäten betrachtend wird deutlich, dass es viele Wahrheiten für die gleiche Sache geben kann. Denn Menschen denken und fühlen nicht sachlich, nicht auf Fakten bezogen, sondern immer auf Basis komplexer Wahrnehmungen und deren Verarbeitung. Schon das Wetter zeigt, dass der Fakt, dass es regnet, leider nicht die ganze Wahrheit ist, die der Einzelne denkt und fühlt. Allein die Regenstärke, aber auch die Wirkung auf unser Gemüt, wird so grundverschieden wahrgenommen, dass sich hinter der meteorologischen Tatsache, dass es regnet, ebenso hunderte individuelle Wahrheiten verbergen.

Nun gibt es aber das Leben. Und es funktioniert. Es gibt da Naturgesetze, Mechanismen und Regeln, nach denen all dies geschehen kann. Es muss sie geben, diese Wahrheiten. Und es gibt sie, denn wir funktionieren.

Wir sind, genauso wie die Welt um uns herum, selbst die Wahrheit. Unser Gehirn versucht lediglich, genau dieses Funktionieren zu verstehen, denn es ist daran nur unbewusst beteiligt. Glücklicherweise muss man sagen, denn nur so können wir uns alles Mögliche zufügen und trotzdem immer wieder regenerieren. Stellen Sie sich vor, wir müssten auch das Funktionieren unseres Körpers bewusst steuern … wir wären ständig in der Krise.

Mittlerweile ist allgemein bekannt, dass für ein erfolgreiches und glückliches Dasein neben der rein kognitiven Intelligenz noch weitere “Intelligenzen”, wie die körperliche, emotionale oder soziale, verantwortlich sind. Neben unserer bewussten Wahrnehmung existiert nicht nur eine unbewusste Wahrnehmung sondern auch deren Einmischung in unsere offensichtlich bewussten Entscheidungen. Wissenschaftler behaupten, das Unbewusstsein würde diese bis zu 75% beeinflussen. Wie kann man etwas entscheiden, was einem gar nicht bewusst ist?

Die Wahrheit triumphiert nie, ihre Gegner sterben nur aus. Max Planck

Ob Seele, Qi, Herz oder Bauchgefühl, der Körper ist im Unbewussten eine andere Welt mit eigener Informationsverarbeitung. Bewusst können wir diese Informationen erstmal nicht verarbeiten. Der Darm zeigt in diesem Zusammenhang einige Besonderheiten, die weit über seine Aufgaben bei der Verdauung hinaus gehen. Neben seiner Rolle im Immunsystem, welche stofflich gut erforscht ist, beherbergt der Darm mehr Nervenzellen als das Rückenmark. Diese kommunizieren mit dem Hirn zu über 80% vom Darm ausgehend. Adressat der Darm-Informationen ist zum größten Teil das limbische System, welchem das Trieb- und Instinktverhalten sowie der emotionale Haushalt zugeschrieben wird.

Deutlich wird dies am einfachsten in Extremsituationen, wie einem traumatischen Schockerlebnis oder plötzlichen Schreck. Wenn einem etwas auf den Magen schlägt oder bei bestimmten Erlebnissen mulmig oder sogar schlecht wird, dann hören wir plötzlich ein starkes Signal unseres Körpers. Hat man die Fähigkeit, etwas mehr “in sich zu hören” würde man dies Intuition nennen, die indirekt auch als gesunder Menschenverstand bezeichnet wird. Intuition hat dabei einen engen Zusammenhang mit der “inneren” Logik der Gegebenheiten und früheren Erfahrungen. Heutzutage wird sie auch als eine trainierbare Wahrnehmungsform betrachtet, deren Herausforderungen in der Differenzierung gegenüber Projektionen, Vorurteilen und der Bewusstmachung liegen.

Ein Mensch ist immer das Opfer seiner Wahrheiten. Albert Camus

Ist Wahrheit in Wirklichkeit nur Kopfsache? Von 200 Lügen am Tag basieren viele auf einem anerzogenem Verhalten durch die Gesellschaft, Familie und Sozialisierung.
Gemeinhin bezeichnet man dies auch als einen mehr oder weniger guten Umgang. Was antwortet man wem auf die Frage, wie es einem geht? Je nach Situation wird man bewusst eine Unterscheidung der inneren und äußeren bzw. nach außen präsentierten Wahrheit machen. Wir müssen sogar lügen, da ein zu jeder Zeit praktiziertes Aussprechen der “Wahrheit” unser gesellschaftliches Funktionieren gefährden und viele Menschen unglücklich machen würde.

Einige Lügen entsprechen echten Unwahrheiten, manchmal aus Unwissen, vielleicht aufgrund eines schlechten Gewissens oder einer unglücklichen Situation oder auch als bewusste Täuschung. Wieder andere sind die Lügen uns selbst gegenüber, die Erklärungen warum unser Leben so ist wie es ist, oder die Rechtfertigungen warum etwas gut oder schlecht ist. Selbst wenn, oder gerade weil wir einige unserer persönlichen Wahrheiten und Bedürfnisse kennen, helfen uns vermeintliche Wahrheiten am Ende kaum dazu, das Leben zu verbessern. Wir wissen, welche Risiken mit Rauchen, Alkohol oder ungeschütztem Geschlechtsverkehr verbunden sind und machen es dennoch. In diesen Situationen schwingt die Erkenntnis mit, dass es ja nicht so kommen muss, weil es vielleicht doch keine Regel oder Wahrheit ist und man selbst zu denen gehöre, die nicht betroffen sein werden.

Wir können einiges verstehen und vieles imitieren, was wir in der Natur beobachten. Manchmal scheint die Suche nach der Wahrheit aber eine Beschäftigung des Hirns aus Langeweile zu sein. Denn wie oft suchen Sie nach Wahrheiten, wenn Sie sich einfach wohlfühlen und alles gerade so ist, wie es Ihren Vorstellungen entspricht? Wie oft hinterfragt man das Glück, wenn es einem widerfährt?

Eine gute Mischung aus Kopf- und Körperwahrheiten zu erhalten ist definitiv Übungssache und hat viel mit Ehrlichkeit gegenüber sich selbst zu tun. Die eigenen Wahrheiten sind dabei das einzige erreichbare Ziel. Die Akzeptanz, dass diese nicht einfach auf andere Menschen projizierbar sind und trotzdem für einen selbst zutreffen, hilft, sich selbst zu akzeptieren oder eben auch zu verändern. Denn ich werde meine Wahrheit, wenn ich mich erkennen, verstehen und mit mir leben kann.

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