Die erniedrigende Wahrheit
13 | 02 | 2014   

TEXT  Eric Weigel

Fragt man einen Philosophen danach, was es zur Wahrheit zu sagen gäbe, sollte man über eine enttäuschende oder gar keine Antwort nicht verwundert sein. Obwohl „Philosophie“ schon lexikalisch die Liebe zur Weisheit und Wahrheit bedeutet, lehrt die Geschichte der Philosophie vor allem, dass die Suche nach Wahrheit immer vom jeweilig vorherrschenden Zeitgeist bestimmt war. In der Moderne zeichnet sich eine Verkettung von unliebsamen Wahrheiten ab, die das Selbstverständnis des Menschen erheblich kränken: eine Entthronung jeglicher Erhabenheit. Die Wahrheit wird zur Erniedrigung.

Um zu verstehen, warum Wahrheit als Kränkung ein wesentliches Merkmal der Moderne ist, wagen wir zunächst eine kleine Reise in die Perspektiven anderer Kulturzeiten. Die griechische Antike ist dabei ursprünglich maßgebend für das gesamte Unterfangen der Suche nach Weisheit und Wahrheit. Dort war Wahrheit die Suche nach einem Ideal, nach einer in den Dingen verankerten Ur-Idee, die es zu ergründen galt. Nicht mehr nur Schatten und Abbilder, sondern das Ding-an-sich sollte hell im Sonnenlicht stehend erkannt werden. Ideell gehörte dazu auch ein Idealzustand der eigenen Haltung: ein inneres Gleichgewicht zwischen dem noch animalisch-triebhaften und dem moralisch-sittlichen, zwischen Natur und Staat, zwischen Entschlossenheit und Zartheit, Ausschweifung und Maß, dem Apollinischem und dem Dionysischen. Die Kultivierung eines solchen Gleichgewichts ebnete den Weg zur Wahrheit und zum guten Leben. Stets die Unausgeglichenheit des Menschen mitdenkend, war dieser Weg bestimmt durch eine pendelhafte Bewegung auf die Wahrheit zu. Rückschritte gibt es auf diesem Weg nicht. Wahrheit war konnotiert mit Ausgewogenheit, Göttlichkeit, Reinheit.

Eine andere interessante Wahrheitsauffassung auf unserem Weg in die Moderne findet sich im abendländischen Mittelalter. Im Schatten des Allmachtsgedanken des christlichen Gottes war das Bild von Wahrheit sehr viel zielorientierter. Man wollte das Eine finden, das für alles galt: ein transzendentes Etwas, aus dem alles entspringt, das alle Universalitäten in einer Einheit zusammenzufassen vermag. Unverkennbar dahinter stehend war die christliche Lehre der Allmacht Gottes und die damit verbundene Dreifaltigkeit. Gottesbeweise waren ein beliebtes Unterfangen der mittelalterlichen Philosophie: Bewies man Gott, so hätte man auch eine solche transzendentale Wahrheit bewiesen. Demnach barg die katholische Kirche ein kulturelles Wahrheitsmonopol.

Erst in der darauf folgenden Frühen Neuzeit begann dank neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse ein Emanzipationsprozess gegen klerikal bestimmte Wahrheitsbilder. Der Einfluß empirisch-wissenschaftlischer Erkenntnisse wurde dabei so dominant, dass sich die Wissenschaft zum Antagonisten der Kirche etablierte. Wissenschaft löste immer mehr mythisch-religiöse Selbst- und Weltverständnisse durch harte Fakten auf. Kratzten manche Wissenschaftswahrheiten zu sehr an klerikal aufrecht zu erhaltenden Weltentwürfen, sah man sich der Inquisition ausgeliefert. Es sei erinnert an die Galileo-Anekdote und sein trotziges „…und sie dreht sich doch!“. Trotz aller kirchlicher Bemühungen war der Siegeszug der Wissenschaften nicht mehr aufzuhalten und prägt unser Verständnis von Wahrheiten bis heute. Kirche und Wissenschaft arrangierten sich innerhalb langer Prozesse hinzu einer ambivalenten Koexistenz, die von Max Horkheimer vortrefflich charakterisiert wurde.

Die Renaissance war Initialpunkt einer ganzen Reihe für den Menschen unliebsamer Wahrheiten, die das anthropologische Selbstbild unwiderruflich revolutioniert haben. Besagte „harte Fakten“ waren nämlich zunächst alles andere als schmeichelhaft. Jahrhunderte hatte man die Einzigartigkeit und Erhabenheit des Menschen kultiviert. Moral distinguierte ihn vom Tierreich.  Der freie Wille war Attribut seiner gottgleichen Abstammung. Ein Gott war es auch, der seine Schöpfung zentral im Universum und nicht in irgendeiner Peripherie verortet haben musste.

Unantastbare, wohlbehütete Wahrheiten, die sich spätestens seit dem Aufstieg des Christentums hinzu einem einheitlichen Weltbild verdichtet haben. Wissenschaft schickte sich nun an, jene uralten Selbstverständnisse innerhalb weniger Dekaden zugunsten nackter Wahrheiten zu destruieren. Zunächst nur unter Fachpublikum und aus Angst vor klerikaler Stigmatisierung zumeist unter vorgehaltener Hand diskutiert, erreichten diese Wissenschaftswahrheiten nur allmählich die breite Masse. Schließlich war Wissen gebunden an Alphabetismus und nur einer Elite vergönnt, was erst die Erfindung des Buchdrucks oder erste Bibelübersetzungen änderte. Nichts desto trotz muss der Kulturschock unvorstellbar gewesen sein.

Im Allgemeinen spricht man von drei wesentlichen Kränkungen des Menschen:
1. Die Erde ist nicht der Mittelpunkt des Universums. In der so genannten kopernikanischen Wende löste das heliozentristische das ptolemäische Weltbild ab. Dies war insofern skandalös, als das die Bibel (Josua 10, 13) die Erde als den zentralen Schauplatz des Universums verortete. Gott hätte seiner Schöpfung niemals irgendeinen, sondern den zentralen Platz im Universum eingeräumt, um den sich alles andere dreht. Die Vorstellung, dass die Erde nur ein Planet unter vielen anderen ist, verletzt damit die anthropozentrische Prestigeperspektive eines gottnahen Menschen.

2. Der Mensch entspringt aus einer Evolutionskette des Tierreichs. Auch hier besteht die Verletzung aus einem verletzten Erhabenheitsselbstverständnis. Der Mensch ist nicht von einem göttlichen Wesen nach seinem Ebenbild geschaffen worden, wie in der kreationistischen Schöpfungsgeschichte der Genesis überliefert, sondern steht dem Tier viel näher, als es sein kulturelles Eigenbild wahrhaben möchte und akzeptieren kann. Als regressives Kuriosum gibt es heute wieder vor allem in den Vereinigten Staaten die sogenannten Kreationisten, die vehement die Genesis als Wahrheit verteidigen.

3. Das menschliche Handeln beruht nicht (nur) auf einem freien Willen. Die wissenschaftlichen Indizien der Psychoanalyse spitzten sich dahingehend zu, dass der Mensch wider der christlichen Lehre nicht Herr im eigenen Haus ist. Jahrhundertelang galt der freie Wille des Menschen als größtes Geschenk Gottes, auf dessen Existenz maßgeblich die christliche Ethik und Heilslehre begründet ist. Der Mensch als zwischen Gut und Böse Wählender bestimmt sein eigenes Schicksal, insbesondere als Konsequenz im Jenseits. Nun erfahren wir, dass ein archaisches, kaum kontrollierbares Unterbewusstsein wesentlich unser Handeln, Denken und Wollen lenkt. Es steckt viel mehr Animalisches in uns, als uns lieb ist.

Dies sind die drei wesentlichen Umstürze. Der Vollständigkeit halber sei noch eine vierte, momentan debattierte erniedrigende Wahrheit angeführt: Es steht die Behauptung im Raum, dass Körper nicht mehr sind als an die Umwelt optimierte Gen-Container, die den Fortbestand der Art durch äußerliche Attribute sichern. Auch hierbei handelt es sich erneut um eine Reduzierung auf einen rein naturalistischen Biologismus jenseits aller Vorstellungen von Individualität oder Einzigartigkeit.

Denkt man in dieser Linie über Wahrheit nach, beendet die Moderne jede Vorstellung von Wahrheit als etwas Edlem. Vielmehr haben wir bis heute damit zu kämpfen, bestimmte Wahrheiten anzuerkennen und sie mit unserem kulturellen Erbe zu vereinbaren. Es bedarf immer einer Art kultureller Inkubationszeit bis das Virus „Wahrheit“ sich ausbreitet und behandelt wird als ein Stigmata, mit dem sich der Patient arrangieren muss. Im Kleinen können wir auch noch heute Kulturschocks durch Wissenschaftswahrheiten erfahren.

Der Mensch ist nur bedingt an Wahrheiten interessiert: Nützen sie ihm als bequeme praktische Grundlagen, so bedient er sich ihrer gerne und brüstet sich mit ihnen. Für unbequeme Wahrheiten hält der Mensch nach wie vor ein großes Instrumentarium an selbstschützenden Mechanismen bereit. Immer noch reagiert der Mensch besonders allergisch auf Wahrheiten, die seine kulturelle Identität ankratzen oder gar Machtverhältnisse kippen könnten.

Eine noch recht junge Institution wie die Ehe wird durch die wissenschaftliche Wahrheit, der Mensch sei zur Monogamie nicht fähig kaum tangiert. Das Konzept der Ehe und Familie ist sowohl politisch besonders funktionell, als auch eine fest eingeschriebene menschliche Sehnsucht nach ewiger Liebe. Während die Funktionalität politischen Ursprungs ist, wird die Vorstellung von ewiger Liebe vor allem medial im 20. Jahrhundert massiv beflügelt. Die Traumfabrik Hollywood hat es bestens verstanden, diese Sehnsucht kommerziell motiviert zu instrumentalisieren.

Konfrontiert mit der Möglichkeit, Monogamie sei eine kulturelle Lüge, erntet man allzu oft eine sonderbar trotzköpfige Empörung. Dies ist der Moment, bei dem zwar auf rationaler Ebene eine plausible Wahrheit deutlich wird, aber die mitschwingende Kulturverletzung so groß ist, dass man etwas lieber „nicht wahr haben will“.

Es gibt noch viel zu tun. Wer weiß, was in Zukunft wahr sein wird? Wir finden es heraus, indem wir uns trauen, das allzu bequeme Schneckenhaus immer mehr zu verlassen, denn die Geschichte zeigt, dass kulturelle Selbstverständnisse keine Zuflucht vor der Wahrheit gewähren. Es gibt zwar kein Entkommen, aber niemand ist alleine beim Abarbeiten der zunächst unliebsamen, kränkenden Wahrheiten.

 

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