Die klassifizierte Wahrheit
13 | 02 | 2014   

TEXT  Karen Dobberstein

Im Verlaufe der letzten Jahre hat die mediale Präsenz psychischer Störungen deutlich zugenommen: Die Zahl der Krankschreibungen aufgrund psychischer Probleme sei drastisch gestiegen, vermehrt hätten auch Kinder emotionale und Verhaltensstörungen. Burnout- und Erschöpfungssyndrome zeigten sich deutlich erhöht bei Menschen zwischen ihren zwanzigsten und vierzigsten Lebensjahren.


Die steigenden Zahlen für dieses Auftreten von psychischen Störungen und die daraus folgenden Krankentage sind alarmierend und Kosten verursachend. Damit einhergehend erhöhen sich die Verbrauchszahlen für Psychopharmaka und die Überweisungen an Psychotherapeuten, die kaum mehr ohne monatelange Wartezeiten Termine vergeben können.

Besonders beunruhigend sind die steigenden Zahlen für die Vergabe von Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen. Es gibt zwar verhaltenstherapeutische Ansätze für Störungen wie zum Beispiel ADHS, doch auch diese gehen oft mit einer Gabe von Psychostimulanzien einher.
Gibt es wirklich ein vermehrtes Auftreten von psychischen Störungen in der Gesellschaft oder benutzen Ärzte bestimmte Diagnosen wie Burnout, Depression und ADHS inflationär?

„Ein Neurotiker ist ein Mensch, der ein Luftschloss baut. Ein Psychotiker ist der Mensch, der darin lebt. Ein Psychiater ist der, der die Miete kassiert.“ (Jerome Lawrence)

Ein Klassifikationssystem
Das DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) ist ein diagnostisches Klassifikationsschema für psychische Störungen, früher psychische Krankheiten genannt, welches von der APA (American Psychiatric Association) herausgegeben wird. Ausführliche Beschreibungen der Kriterien und die Einteilung in verschiedene Schweregrade der Störung sollen umfassend Informationen liefern, welche Diagnose bestmöglich die Symptomatik des Patienten wieder spiegelt und ihn somit einordnet. Doch was haben die Patienten eigentlich von dieser Information?
Für Ärzte und Psychotherapeuten ist das weitere Vorgehen nach Mitteilung der Diagnose relativ klar umrissen. Je nach ihrem wissenschaftlichen Ausbildungshintergrund werden entweder Psychopharmaka verschrieben oder eine stationäre oder mehrstündige ambulante Psychotherapie veranlasst. Als Folge einer ersten Klassifizierung, der Diagnose, resultiert eine weitere klassifizierte Entscheidung und Einschränkung, die Therapie.

Statistik und Wirklichkeit
Aus der Psychodiagnostik kennt man den Begriff des Alpha-Fehlers bzw. Fehlers erster Art. Das bedeutet, dass im Falle der Diagnosestellung die Nullhypothese (= der Patient ist gesund) abgelehnt wird, obwohl sie zutreffen könnte. In diesem Szenario wird einer Person eine Störung zugesprochen, die nicht zutreffend ist. Jede gestellte Diagnose ist also nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit passend. Zudem lassen sich psychische Störungen und deren Verlauf genauso wenig standardisieren wie jene Patienten, die unter ihnen leiden. Ein Negativ-Beispiel hierfür sind unzählige Prognosegutachten über Straftäter, die trotz angeblicher Resozialisation rückfällig geworden sind und sich daher oft nicht bewahrheiten.

Die Zuschreibung einer psychischen Störungs-Diagnose erlaubt dem Patienten einerseits Verständnis und Bestätigung für seinen Zustand zu erfahren und eine erste Erklärung für sein abweichendes Verhalten oder beeinträchtigenden Gemütszustand zu erhalten. Auf der anderen Seite kann eine Diagnose die Manifestation eines Zustandes unterstreichen und somit auch die Handlungsmöglichkeiten einschränken.

Es gibt Kritiker aus den eigenen Reihen, wie zum Beispiel den Schirmherren der aktuellen DSM-Ausgabe, Allen Frances. Nach seiner Meinung gäbe es bereits diese Diagnoseinflation und das Klassifikationsssystem DSM-IV erschaffe Epidemien wie ADHS überhaupt erst. Seit dem ersten Erscheinen des DSM im Jahr 1952 mit 106 Diagnosen haben sich die Störungsbilder verdreifacht. Heute, vor Erscheinung der nächsten Fassung des DSM im Jahr 2013, liegt bereits eine Petition gegen die Ausweitung der Diagnosen vor. Nach aktuellen Angaben auf der Webseite www.ipetitions.com liegt die Zahl der unterzeichnenden Mediziner bei fast 13 500.

Die Verantwortung der Diagnose
Ein anderer Ansatz ist, die Diagnose nur als eine Momentaufnahme einer psychischen Zustandsbeschreibung eines Menschen und nicht als eine lebenslange Krankheit zu sehen. Dieses „Wahrheitsproblem“ wird in allen wissenschaftlichen Disziplinen diskutiert und stellt ein wissenschaftstheoretisches Problem der Erkenntnisgewinnung in der Psychologie dar. „Alle Erkenntnismöglichkeiten sind prinzipiell beschränkt, Sachverhalte können erst im Sinn- und Zweckzusammenhang konkreter Handlungen interpretiert werden. Erkenntnisse sind daher immer Stückwerk.“ (Lexikon der Psychologie, Spektrum)

Mit dem Wissen, dass jedes Gehirn, auch bei eineiigen Zwillingen, individuell verschieden ist, scheint die Anwendung klassifizierter Therapien ebenso unzureichend. Es gibt zum Beispiel nur drei Therapierichtungen, die von den deutschen Krankenkassen anerkannt werden. Dabei existieren viele andere Therapierichtungen, die ebenso effektiv, wenn nicht sogar wirksamer sind. Patient und Therapeut können ohne eine gewisse Kennenlernphase nicht wissen, welche Therapieform die passende ist. So unwissenschaftlich wie es klingt,  kann das jeder nur individuell herausfinden, indem er es ausprobiert.

Eine Grundannahme aus der Provokativen Therapie nach Frank Farrelly lautet: „Patienten können sich ändern, wenn sie wollen“. Diese Annahme drückt aus, wie wichtig die Entscheidung zur Veränderung und das Übernehmen der Verantwortung für das eigene Handeln des Patienten sind. Nicht die Triebe und das Unbewusste sind Schuld an der Misere, sondern unsere eigenen Entscheidungen. Die Opferrolle und die „Diagnosegläubigkeit“ mancher Patienten sind daher für Veränderungs- und Selbstorganisationsprozesse nicht förderlich.

Die permanente Medienpräsenz des Burnout-Themas kann dementsprechend dazu führen, dass Betroffene einerseits eine Erklärung für ihre Überarbeitung und Erschöpfung erhalten und Ärzte andererseits stets eine Diagnose für zunächst „nur“ vegetative Symptome parat haben. Die epidemiologischen Zahlen für Depression und Burnout steigen weiter an.

Fraglich ist dabei, wie viele Hausärzte in Konsequenz auf derartige Diagnosestellungen direkt Antidepressiva verschreiben ohne dies vorher psychodiagnostisch abgeklärt zu haben. Denn die Schnelligkeit einer verschriebenen Medikation ist besorgniserregend. In den Vereinigten Staaten, aber auch in Deutschland erfolgt bereits nach wenigen Minuten anamnestischer Abklärung die Verschreibung eines Psychopharmakons oder anderer Medikamente.

Selbst bei den besten Psychotherapeuten ist eine genaue Abklärung der Diagnose in diesem Zeitraum nicht möglich. Nicht umsonst räumt selbst die GKV finanzierte Psychotherapie der Diagnosefindung fünf probatorische Sitzungen à 50 Minuten ein.

Glücksgefühle auf Rezept
Besonders brisant wird diese Tatsache, wenn es um die Vergabe von Psychostimulanzien bei Kindern geht. Statistiken belegen zum Beispiel einen beachtlichen Anstieg bei der Ausgabe von ADHS-Medikamenten. Der Wirkstoff Methylphenidat (Handelsname Ritalin) erfuhr auf diese Weise eine Verbreitung ungeahnten Ausmaßes. Seit April 2011 wurde die Zulassung des Wirkstoffs auch auf Erwachsene erweitert, was teilweise zum Missbrauch desselben als Leistungssteigerer geführt hat. Ein weiteres ADHS-Medikament ist Strattera (Wirkstoff Atomoxetin), welches 2005 wegen der Begünstigung suizidaler Handlungen oder verstärkter Feindseligkeit Schlagzeilen machte. Würden Sie Ihr Kind auf Basis einer Verdachtsdiagnose der Dauermedikation mit derartigen Medikamenten aussetzen?

Genauer betrachtet tauchte die Diagnose ADHS 1980 das erste Mal im DSM-III auf. Die inflationäre Verwendung dieser Diagnosestellung sowie der steigende Verbrauch entsprechender Psychopharmaka begannen allerdings später. Statistiken des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte belegen im Jahr 1993 eine Ausgabe von 34 kg Methylphenidat. 2008 dagegen gaben deutsche Apotheken unglaubliche 1617 kg des Medikaments aus, was einer 5000prozentigen Steigerung in nur 15 Jahren entspricht.

Die Kritik am DSM-IV, Verbündeter der Pharmaindustrie zu sein, wird zumindest bei solchen Zahlen mehr als verständlich. Kritisiert wird außerdem die Finanzierung aller Autoren des DSM-IV durch die Pharmaindustrie sowie die Tatsache, dass DSM-IV-Diagnosen Voraussetzungen für viele US-Versicherungsgesellschaften sind, Medikamente für Patienten zu bezahlen. Gerade aus psychotherapeutischer Sicht darf hier die Frage erlaubt sein, ob mit Hilfe der Psychopharmaka und deren Verwendung als neue Allzweck-Wohlfühlpillen wirklich nachhaltig und dauerhaft Therapieerfolge erzielt werden?

Wege aus dem Dilemma
Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob er einer Diagnose totale Beachtung schenkt oder ob er trotz Diagnose einen Weg zu seiner Handlungsfähigkeit, Selbstwirksamkeit und den eigenen Selbstheilungskräften geht. Damit unser Alltag verstehbar und bewältigbar bleibt, müssen wir mit Filtern und in Schubladen denken. Wir können nicht alle einströmenden Informationen verarbeiten!

Vielleicht geht es viel weniger um die Frage, wie wahr eine Diagnose ist, als vielmehr um die Frage, wie hilfreich sie sein kann. Anstatt nur in „entweder oder“ Schubladen bzw. Diagnosen zu denken, kann man sich ebenso einer „sowohl als auch“ Einstellung zuwenden, die uns im Zweifelsfall die Grauzone der Wahrheit erkennen lässt und damit unsere Wahlmöglichkeiten erhöht.

 

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