INTERVIEW mit Dr. Dr. Jürgen Weitkamp
25 | 10 | 2012
EIN LEBEN IN DER STANDESPOLITIK
– über Freiheit und Selbstbestimmung in der Zahnmedizin
Die zahnärztliche Standespolitik in Deutschland betrachtend fällt auf, dass nur sehr wenige junge Zahn-mediziner das Engagement für den Berufstand und seine Interessen wahrnehmen. In vielen Organisa-tionen wurde der notwendige Generationenwechsel dabei auch von den, zumeist älteren Amtieren-den, bisher noch nicht erkannt oder zugelassen. Umso erstaun-licher sind die Persönlichkeiten, die aktiv für eine stärkere Kommu-nikation zwischen Jung und Alt eintreten und diese fördern.
Einer dieser Menschen ist der langjährige Präsident und heutige Ehrenpräsident der Bundeszahn-ärztekammer (BZÄK), Dr. Dr. Jürgen Weitkamp, der sich bereits während seiner Amtszeit für die Einbindung der Studenten und jungen Zahnärzte engagiert hat. Dies mündete unter anderem darin, dass er 2009 Gründungsmitglied des Bundesverbandes der zahnmedizinischen Alumni in Deutschland (BdZA) wurde und kontinuierlich aktive Unterstützung beim Aufbau einer Alumni-Kultur sowie der Interessenvertretung junger Zahnmediziner leistete.
UN-PLAQUED nahm seine Ehrung mit dem ALUMNI Preis des BdZA zum Anlass, ihn nach seinen Beweggründen für sein jahrzehntelanges Enga-gement in der Standespolitik sowie die Motivation junger Zahnmediziner zu befragen. Wir trafen einen beeindruckenden Freigeist und Visionär, der es versteht, Zusammenhänge weit über die Grenzen der deutschen Gesundheitspolitik hinaus zu verknüpfen. Und einen Menschen, der trotz aller Erlebnisse durch die Geschichte hinweg zeigt, dass man seinen Glauben, seine Authentizität und seine Unbefangenheit in jedem Alter erhalten kann.
UN-P: Was hat Sie ursprünglich dazu bewogen, in die Standespolitik zu gehen, anstatt wie viele andere Kollegen, nur in der Praxis zu arbeiten?
JW: In die Standespolitik zu gehen hatte einen ganz simplen Grund, nämlich der Ärger über diejenigen, die gerade Standespolitik machten. Ich denke, das ist für die meisten, die je in die Standespolitik gegangen sind, der übliche Grund gewesen.
Zu meiner Zeit ging es darum, dass 1964, nach einen Richterspruch des Bundessozialgerichts in Kassel die Prothetik in die Verträge aufgenom-men wurde, wie man das damals nannte. Die Prothetik war bislang noch nicht in diesen Verträgen mit den Krankenkassen erfasst. Es gab einen ganz schlichten Zuschuss für Kronen und Brücken und ein paar andere Maßnahmen und das war alles.
Durch diesen Richterspruch wurde die Prothetik eine ›Sachleistung‹.Die Kasseler Richter hatten aber nur die Basisdinge der Prothetik, also Kronen, Brücken, Prothesen, in die Verträge integriert; alles was darüber hinaus ging, zum Beispiel Keramik-Verblendungen, Geschiebe und vieles andere wurde nicht mit aufgenommen. Für mich als Freiberufler, und das bin ich von Hause aus, da ich eine Praxis meines Vaters übernommen habe, war alles, was in Verträge gefasst wurde, nicht gut. Es hatte aller-dings in diesem Fall den, wenn auch nur finanziellen Vorteil, dass die Krankenkassen auch Leistungen einbezogen, die die Sozialrichter gar nicht als Vertragsmuss vorgegeben hatten. Um diese Leistungen zusätz-lich in die Verträge hinein zu bringen, waren die Krankenkassen bereit, den Punktwert unglaublich anzuheben. Das hat mich und viele andere geärgert.
Damals gab es eine Kerngruppe im Freien Verband, die von München aus gesteuert wurde und der wir praktisch als Gegner der Freien Verbands-führung in Westfalen/ Lippe angehörten, die wiederum die gesamte Pro-thetik in den Verträgen festschreiben wollte. So kam es, dass ich bei einer Veranstaltung ein paar Worte sagte und sofort in der Opposition war. Als ich danach den Antrag stellte, in den Freien Verband aufge-nommen zu werden, wurde dieser abgelehnt. Ich wurde danach etwas ›lauter‹, so dass man beim Freien Verband in Bonn auf mich aufmerksam wurde. Ich bin also einer der Wenigen, wenn nicht der Einzige, der an einem Landesverband vorbei vom Bundesvorsitzenden in den Freien Verband als Mitglied aufgenommen worden ist.
Wie sich herausgestellt hat, war die Aufnahme der gesamten Prothetik in diese Verträge in vielerlei Hinsicht verderblich für zahnärztlichen Berufsstand. Zum Einen war der Win-for-Profit, den wir damals durch diesen wahnsinnig hohen Punktwert bekamen, verführerisch. Er spülte Geld in unseren Praxen und hat unser Image in der Öffentlichkeit nicht zum Besten werden lassen. Zum anderen ist zurückstecken dann sehr schwierig. Es gab viele Turbulenzen, sowohl als diese Verträge ge-schlossen wurden, als auch später, als der Punktwert gesplittet wurde, weil er für die Prothetik zu hoch geworden war.
Es gab also Konsequenzen, die wir damals in unserer kleinen Gruppe exakt vorausgesehen hatten: dass beispielsweise die Krankenkassen ausbluten würden und dass Patienten Dinge beanspruchen konnten, die sie eigentlich nicht unbedingt haben wollten, die sie teilweise gar nicht goutiert haben. Diese Entwicklung hat der Zahnmedizin im Wesentlichen für viele Jahre den guten Ruf gekostet und uns vom Pfad der Tugend ein wenig abgebracht. Viele haben den zahnmedizinischen Beruf nicht mehr als einen Heilberuf empfunden, sondern als schlichte Klempnerei – ich sage das in dieser Deutlichkeit, weil ich das auch belegen kann.
UN-P: Teilweise ist die Meinung, dass Viele den zahnmedizinischen Beruf wegen des Geldes wählen, heute noch zu spüren.
JW: Das mag so sein und das hat der Numerus Clausus dann auch deutlich gezeigt. Plötzlich studierten diejenigen, die der Physik oder Chemie oder sonstiger hochstehender Fächer befähigt waren, Zahnmedizin, weil man dort am schnellsten mit einer Eins im Zeugnis Geld verdienen konnte. Anscheinend … das ist ja nicht mehr so.
UN-P: Haben Sie dann einfach weitergemacht mit der Standespolitik?
JW: Ja, und das ging dann merkwürdig schnell. Wir bekamen gegen den etablierten Freien Verband hier in Westfalen mit unserer Gruppierung plötzlich die Mehrheit. Bei einer KZV-Wahl traten die Damen und Herren aus dem Freien Verband aus und wir gründeten einen neuen Freien Verband Bezirk Westfalen/Lippe. Damit hatten wir sowohl die Vorstände im Verband als auch den Vorstand der kassenzahnärztlichen Vereinigung zu besetzen. So kamen wir im Frühjahr 1977 als absolute Greenhorns und Newcomer in den Vorstand der kassenzahnärztlichen Vereinigung.
UN-P: Seitdem und zumindest bis 2008 war bei Ihnen kontinuierlich Standespolitik an der Tagesordnung. Wie haben Sie Praxis, Politik, Familie und Leben in Einklang gebracht?
JW: Ich hatte schon eine gute Art mein Studium einzuteilen: Acht Stunden Arbeiten, acht Stunden Schlafen oder Ausruhen und acht Stunden Feiern. Ich habe das konsequent durchgehalten und so konnte ich zwei Studiengänge überwiegend nebeneinander absolvieren, war nebenbei Ältester des ASTA in Mainz und in einer sehr aktiven Studentenverbindung.
Das ging dann kontinuierlich so weiter. Dabei habe ich möglichst wenig Zeit in der Praxis ausgelassen. Wenn ich viel Arbeitszeit in der KZV zubringen musste oder beim Freien Verband, war ich abends oder am Samstag in der Praxis. Denn eines war mein oberstes Prinzip und das kann ich allen nur raten: unabhängig zu bleiben. Finanziell unabhängig, aber auch im Geiste unabhängig.
UN-P: Und Ihre Familie hat das auch mitgetragen?
JW: Meine Familie hat das mitgetragen, nicht immer mit allergrößter Freude. Meine Frau, eine promovierte Juristin, hat sich zunächst den Kindern gewidmet und ist dann, als ich sehr häufig außer Haus war, in die örtliche Politik eingestiegen und hat viele Ehrenämter, die sie auch heute noch sehr intensiv betreut.
UN-P: Sie hatten führende Positionen sowohl in der Zahnärztekammer als auch der KZV. Sind Sie nun ein Kammer- oder ein KZV-Mensch? Ich denke hier vor allem an die Zusammenarbeit und die gelegentlichen Verfeindungen der Körperschaften.
JW: Jetzt geht’s an Eingemachte … (lacht). Weil mir ja von beiden Seiten hin und wieder vorgeworfen wird, ich sei KZV-Mensch oder ich sei Kammer-Mensch. Meine Ausbildung habe ich in der KZV Münster erhalten. Dann wurde ich irgendwann Stellvertretender Vorsitzender der Vertreterversammlung auf Bundesebene. Später wurde ich für 12 Jahre Vertreter der kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung und habe das auch mit Überzeugung ausgeübt. Als stellvertretender KZV-Vorsitzender in Münster wurde ich dann zum Kammerpräsidenten in Münster gewählt. Da war ich eben beides: KZV-Mann und Kammerpräsident.
Ich weiß sehr wohl, inwieweit uns die KZV nützt und welches die Aufgaben der Kammer sind. Auch wenn sich jetzt manche wundern werden, die mich nur aus der letzten Zeit als Kammer- Vertreter kennen – wir benötigen als Kassenzahnärzte eine ganz starke KZV als Vertretung gegenüber der Politik, den Krankenkassen und der Öffentlichkeit.
Ob diese KZV nun gleichzeitig unser gesamtes Abrechnungsgeschehen übernehmen muss und ob es richtig ist, dass die KZV ihre Stärke ausschließlich darin begründet, dass sie eben diese Abrechnung macht, stelle ich ein wenig in Frage. Denn es scheint ihnen sehr schwer zu fallen, die Kostenerstattung – aus meiner Sicht ein Grundrecht für Patienten und Leistungsträger, die Zahnärzte – sonderlich zu fördern. Ich bin ein absoluter Anhänger und vehementer Vertreter dieser Kostenerstattung.
Wenn es heißt, durch die Kostenerstattung würde eine KZV in Frage gestellt, weil man dann viele Angestellte entlassen müsste, kann ich mit dieser Argumentation überhaupt nichts anfangen. Ich stelle die KZV überhaupt nicht in Frage. Im Gegenteil: Ich möchte dort eine politisch starke Vertretung haben, die unabhängig ist und nicht darauf angewiesen ist, ihre Gelder über das gesamte Abrechnungsgeschehen zu generieren.
Die Kammer hingegen hat die ganz umfassende Aufgabe, den Berufsstand in allen Dingen zu vertreten, die der kassenzahnärztlichen Vereinigung nicht zugeschrieben sind, per Satzung oder Gesetz. Wenn wir uns darauf besinnen würden, dass wir in der einen Körperschaft exakt das oben Beschriebene machen und in der Kammer die große berufspolitische Vertretung sehen, dann kommen wir sehr gut miteinander aus. Kleine Reibungspunkte zwischen zwei unterschiedlichen Organisationen wird es wahrscheinlich immer geben.
UN-P: Wie bewerten Sie die im Bundesgebiet immer wiederkehrenden Machtkämpfe zwischen den Körperschaften?
JW: Diese Machtkämpfe hat es immer schon gegeben. Sie wurden potenziert, als der Gesetzgeber, diese Entwicklung offensichtlich vorausahnend, die Vorstände der Kassenzahnärztlichen Vereinigung zu Vollzeit-Vorständen machte. Diese Kollegen sollten eigentlich nicht mehr in den Praxen tätig sein. Gleichzeitig wurden die Vertreterversammlungen auf ein Rumpfparlament zusammengeschrumpft. Das waren alles Maßnahmen, die unser Berufsstand nie gefordert hatte. Von da an gab es eine wirkliche Trennung zwischen den ehrenamtlich tätigen Kammervorständen und den professionellen, allein von ihrem Amt in der KZV abhängigen Kollegen. Auch damit kann man fertig werden, selbstverständlich. Aber die Friktionen wurden größer. Weil sich die einen den ganzen Tag um die KZV kümmern konnten, während die anderen in ihren Kammern weiterhin ehrenamtlich tätig waren und die feste Basis ihres Berufes der praktischen Zahnheilkunde behielten. Das waren neue Herausforderungen und doch ist alles Menschenwerk – mit kühlem Verstand und ohne Emotionen hochkommen zu lassen, kommt man bestens miteinander aus. Wenn es nicht funktioniert, liegt das weniger an der Systematik, sondern überwiegend an den Personen.
UN-P: Während Ihrer Amtszeit kamen sich die Standespolitik und die Wissenschaft in der Zahnmedizin deutlich näher. Vor allem das Verhältnis zwischen der Bundeszahnärztekammer und der DGZMK wurde gefestigt. Warum war das aus Ihrer Sicht vorher nicht so und sehen Sie diesen Prozess als abgeschlossen an?
JW: Dieser Prozess ist überhaupt nicht abgeschlossen, hin und wieder erleidet er sogar Rückschläge. Auf beiden Seiten muss man regelrecht darum kämpfen, dass die alten Zustände – die Wissenschaft im Elfenbeinturm und die KZVen und die Kammern für das Grobe zuständig – nicht wieder kommen. Unser Fach ist, das ist Manchen aus den Augen geraten, die wissenschaftliche Zahnheilkunde und hier brauchen wir uns beide. Auf der einen Seite die ›Berufspolitiker‹, die sich mit der Standespolitik beschäftigen, um diesen Berufsstand nach vorne zu bringen und weiter zu entwickeln. Das funktioniert allerdings nur, wenn wir sehr eng mit der anderen Seite, der Wissenschaft zusammen arbeiten. Sie sorgt dafür, dass wir immer wieder mit neuen Innovationen in unsere Praxen gehen und unsere Patienten auf das Beste betreuen können.
Es funktioniert aus pragmatischen Gründen nur so, auch zukünftig betrachtet. Wenn wir uns nebeneinander entwickeln, kämen die alten Zustände zurück. Die Hochschule würde etwas behaupten und lehren, das in der Praxis nie angewendet würde und umgekehrt: die Praktiker würden sagen, dass die Tätigkeiten der Hochschule praxisfern seien und niemals den Patienten zugemutet werden können. Dazu darf es nicht mehr kommen und daran haben wir sehr intensiv gearbeitet. Ich hatte das Glück, während meiner gesamten Amtszeit in Berlin mit Vorständen und Präsidenten in der DGZMK zusammen zu arbeiten, die exakt meiner Meinung waren.
UN-P: Die Realität des Behandlungsalltags differiert nicht selten von den Therapieempfehlungen der Universitäten. Können Sie rückblickend sagen, dass das vor 20 Jahren auch schon so war? Wie könnte man in Zukunft noch mehr an einer gemeinsamen Ebene arbeiten?
JW: Vor 20 Jahren haben beide Seiten aneinander vorbei gelebt. Jeder, der im Bereich der Standespolitik Bezug auf die Hochschule nahm, wurde von seinen eigenen Leuten beschimpft und umgekehrt. Enge Kontakte zwischen den beiden Gruppierungen wurden nicht zugelassen, das war schon aus Gründen der Hygiene nicht gedeihlich und erregte in den eigenen Reihen Misstrauen.
Das hat sich nun restlos gewandelt und ich hoffe, dass sich diese Entwicklung fortsetzt. Wir haben den Deutschen Zahnärztetag geschaffen und das ist, wenn man es richtig aufbaut, die ideale Basis, um unter Erhalt der eigenen Identität aufs Engste zusammen zu arbeiten. Einmal im Jahr wird der breiten, aber auch der internen Öffentlichkeit gezeigt, dass es einen wissenschaftlich fundierten zahnärztlichen Berufsstand gibt, der sich in der Politik und der Wissenschaft gemeinsam darzustellen weiß – mit ganz solider Grundlage.
INTERVIEW: Ingmar Dobberstein und Jan-Phillip Schmidt
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